Der Schrei (1994)

VALIE EXPORT

EXPORTs Installation Der Schrei wurde erstmals 1994 im Rahmen der Ausstellung GEWALT/Geschäfte. Eine Ausstellung zum Topos der Gewalt in der gegenwärtigen künstlerischen Auseinandersetzung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin gezeigt.

Auf einer Videowand sind Aufnahmen von EXPORTs Stimmbändern zu sehen: Die Künstlerin filmt mit einem Laryngoskop ihre Stimmritzen, während sie versucht, einen Text zu sprechen. Aufgrund des in die Kehle eingeführten Laryngoskops sind die Worte von EXPORT nicht verständlich, sie kann nur hohe Töne produzieren. EXPORT macht mit dieser Installation die Anstrengungen sichtbar, mit denen die Stimmerzeugung verbunden ist.

Frank Wagner, Kurator und Mitglied der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, beschreibt in seinem Aufsatz Strukturelle Gewalt oder Macht der Strukturen. Fünf große Rauminstallationen von VALIE EXPORT, der im Ausstellungskatalog VALIE EXPORT. Mediale Anagramme (2003) erschienen ist, das Verhältnis von Stimme, Macht und Gewalt in EXPORTs Installation:

Eine ölgefüllte rechteckige Wanne bildet das Zentrum zwischen zwei Videoprojektionen und einem mittig über der Ölfläche angebrachten Laser. Auf der einen Videowand ist die Glottis und Kehle von VALIE EXPORT zu sehen, während die Künstlerin versucht zu sprechen. Ein tief in die Kehle eingeführtes Laryngoskop ermöglicht die Aufnahme, gleichzeitig verhindert es das freie Sprechen: Der Versuch, sich verständlich zu machen, scheitert an den schmerzhaften Auswirkungen des Vorhabens, die Stimmband-Mechanik aufzuzeichnen und erlaubt der Künstlerin, nur einen hohen gebrochenen Ton von sich zu geben.

Die zweite Projektion zeigt eine Abbildung einer oszillographischen, elektroakustischen Sprachaufzeichnung. Ein Verfahren, das die Stimme in Frequenzen zerlegt und somit Stimmvolumen, Sprachgeschwindigkeit und Lautstärke misst. Untersuchungsgegenstand ist das Sprechverhalten psychisch Behinderter, deren Sprache durch Wortneubildungen erweitert wird. Diese kreativen Sprechakte werden als Glossolalie bezeichnet. Sie führen zur Beeinträchtigung der Verständlichkeit und stellen sich desto mehr ein, umso erregter der Betroffene auf eine Situation reagiert. Ein Laser schließlich zeichnet tibetanische Schriftzeichen auf die Öloberfläche. Es handelt sich um Fragmente einer Lehre von buddhistischen Mönchen, die seit der Besetzung Tibets durch die VR China 1950 verboten sind. Die Aufrechterhaltung des Verbotes hat in der Folgezeit bis heute zu Folter, Mord und Hinrichtung an mehr als einer Million Tibetern geführt.

In allen drei Fällen geht es um die Produktion von Sprache und ihre Behinderung durch mechanische, psychische und politische Prozesse. VALIE EXPORT setzt Kontrolle, Zurichtung und Zuschreibung ins Verhältnis zur menschlichen Artikulation. Es ist nicht ohne Hintersinn, dass es die Stimme einer weiblichen Person (der Künstlerin) ist, die sich nicht artikulieren kann und dennoch den gesamten Umgebungsraum dominiert. Am Beispiel der Frau, der psychisch Behinderten und der buddhistischen Mönche werden Unterdrückungsmechanismen thematisiert.

Zur Visualisierung des Sachverhalts werden verschiedene Aufzeichnungsverfahren addiert, Verfahren, die nicht ohne weiteres decodiert werden können. Es kommt zu einer Verknüpfung verschiedener Bild- und Tonaufzeichnungsmethoden, entlehnt aus der Akustik, der Medizin und der Hochleistungsphysik kombiniert mit Computertechnik. Auf der Apparatebene wird Sprache in Stimme (ihre Mechanik), Ton (ihre Schwingungen) und Bedeutung (auf der Zeichenebene) zerlegt und mit den verschiedenen Behinderungen in ihrer Artikulation verknüpft.

Ihre berührende Stärke bezieht die Installation aus der Erregung, die die Künstlerin in die Vibration eines Oszillographenschreibers überträgt und durch das Öffnen und Schließen der Stimmritze, die in bisher selten gesehene Bilder einer Großprojektion – ein irritierender, fast intimer Einblick in die Körperlichkeit und Verletzlichkeit des Individuums – übersetzt werden.

aus: Frank Wagner: Strukturelle Gewalt oder Macht der Strukturen. Fünf große Rauminstallationen von VALIE EXPORT. In: VALIE EXPORT. Mediale Anagramme. Berlin: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst 2003, S. 139-146, S. 139-140.