Vito Pinto: Jelinek - Rois - Bruckmaier

Vito Pinto, Lektor, Dramaturg und Dozent der Theaterwissenschaft an der FU Berlin, beschäftigt sich in seinem Beitrag Jelinek – Rois – Bruckmaier. Spuren der Stimme/n: eine Polyphonie mit Stimme(n) in der Hörspielfassung von Jelineks Roman Neid:

Die menschliche Stimme verfügt über eine ganz zentrale Eigenschaft: Indem sie er-klingt, ver-klingt sie auch zugleich, sie wird dem Körper des Sprechenden entwendet. Die Stimme kann daher als flüchtiges, fluides Phänomen bezeichnet werden, welches zugleich die An- bzw. Abwesenheit einer Sprecherin oder eines Sprechers markiert. Wir, die wir Stimmen rezipieren, nehmen die Stimme als eine Spur wahr: als Spur des Körpers der/des Sprechenden. Darüber spielt sie ihren besonderen Reiz aus, darüber affiziert sie den Hörenden immer schon, ob nun in angenehmer oder in abschreckender, in anziehender oder in abstoßender Weise: Und es ist uns noch nicht bewusst, was wir mit der Stimme, die sich uns scheinbar aufdrängt, assoziieren und verbinden. Entscheidend ist zunächst, dass die Stimme als akustisches Phänomen, als Spur des Körpers einer/eines Sprechenden erscheint, sich dem Rezipienten zeigt und ihn direkt anspricht. Wir werden jedoch auf bestimmte Stimmen besonders aufmerksam, können uns gewissermaßen ihrem Er-Klingen, ihrem Sound nicht entziehen. Diese Stimmen erzeugen, indem sie sich den Weg durch die Ohren in den Körper des Wahrnehmenden bahnen, eine nahezu magische Anziehungskraft: sie gehen den Hörenden konkret an, involvieren ihn.

Ein prägnantes Beispiel: Sophie Rois, etwa in der Radiofassung von Elfriede Jelineks Neid (BR 2011), verfügt über eine solche Stimme, der wir uns nicht entziehen können, die uns in besonderer Weise mitnimmt und affiziert. Doch das liegt nicht nur am spezifischen Klang, am Timbre, an der Intonation. Denn diese Stimme tritt in ein komplexes Verhältnis mit Jelineks Text sowie der technischen Realisierung durch Karl Bruckmaier. Es zeigt sich, dass es nicht nur darum geht, dass die Schauspielerin vermittels ihrer Stimme den Text der Autorin vorträgt, und dass wir entsprechend als Hörerende die Sprecherin als akustisches Medium wahrnehmen. Rois’ Stimme verkörpert vielmehr das Echo der literarischen Stimmen aus Jelineks wortgewaltigem „Privatroman“. Es zeigt sich im Verlauf des Hörstücks, dass es sich nicht um die eine Stimme handelt, sondern um die akustische Konkretisierung ganz unterschiedlicher Stimmen: um Spuren der literarischen Stimme/n Elfriede Jelineks, um Spuren der konkret erklingenden Stimme der Schauspielerin Sophie Rois, die unterschiedlichen Einfärbungen, Klangnuancen, das (Über-)Prononcieren der Sprache. Rois spricht zwar mit nur einer Stimme, ihrer Stimme. Doch erzählt diese Stimme mehr als nur die eine Geschichte; es sind unendlich viele Geschichten, die ihren Widerhall beim Hörenden, in dessen Assoziationen, Gedanken, Erinnerungen, Irritationen etc. finden.
Hinzu kommt die ihrerseits vielstimmige Mikrophonierung und räumliche Inszenierung der radiophonen Stimme: eine weitere Markierung der Polyphonie, die in der Sprache Jelineks sowie im Stimm-Klang von Sophie Rois nur ihren Ursprung hat. Letztere besetzen die sprach- und stimm-technische Seite der Medaille. Die medien-technische Seite wirkt mittels der Regie Karl Bruckmaiers entscheidend mit: Mal klingt die Stimme ganz nah, mal leise, mal intim, mal distanziert, mal gelangweilt, mal aufbrausend, mal klingt die Stimme hallig, mal trocken, mal räumlich, mal weniger räumlich. Dem/der Hörenden eröffnen sich zu gleichen Teilen das Wort, die Stimme sowie auch das technische Medium, welches sich als weitere Spur in die Wahrnehmung des Hörers/der Hörerin einschreibt. Jenes technische Medium drängt sich dem Hörenden genauso auf wie der Text Jelineks und der Stimm-Körper Rois’.
Diese drei Faktoren sind es, die dieses komplexe akustische, polyphone Geflecht, die Sonosphäre ausmachen: der Text, die Stimme, die technische Realisierung. Und jede Ebene übt ihren je eigenen Reiz auf den Rezipienten aus, der selbst entscheidend zur Wirksamkeit des Gehörten beiträgt: Es obliegt letztlich der Gestimmtheit der/des Hörenden, den viel-stimmigen literarischen Text, den viel-stimmigen Stimm-Körper sowie die viel-stimmige technische Ausgestaltung des Hörraums in dieser oder jener Weise wahrzunehmen.