Corinna Herr: Die weibliche Stimme in der Musik

Corinna Herr, Lehrbeauftragte am Musikwissenschaftlichen Institut der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf und Privatdozentin an der Ruhr-Universität Bochum, beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der geschlechtsspezifischen Zuordnung von Stimmlagen und mit Macht und Machtlosigkeit von weiblichen Stimmen in der Oper.

Die „weibliche Stimme“ wird musikhistorisch in verschiedenen Zeiten unterschiedlich präsentiert, rezipiert und konnotiert. Auf diese Konstruktionen greifen auch heutige Künstlerinnen, wie Valie Export, Elfriede Jelinek und Olga Neuwirth – oder Sängerinnen, wie Maria Callas, Cathy Berberian, Madonna und andere – zurück. Was also ist die „weibliche Stimme“? Hier einige Behauptungen und Gegenreden:

1. Behauptung: Weibliches klingt ‚von Natur aus‘ hoch?

Insbesondere Stimmlage und Stimmklang gelten als Merkmale zur Definition von Geschlecht: Hohe Stimmen stehen für Weiblichkeit, tiefe für Männlichkeit. Rebecca Grotjahn hat exemplarisch auf diese Zuordnung in der Instrumentationslehre des Komponisten Hector Berlioz in der Mitte des 19. Jahrhunderts hingewiesen, der proklamiert: „Ihrer Natur nach werden die Singstimmen in zwei große Kategorien getheilt: in die männlichen oder tiefen und in die weiblichen oder hohen Stimmen“. Die von Karin Hausen konstatierte „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ äussert sich also auch im Bereich der Singstimme, zumindest seit dem späten 18. Jahrhundert. Denn die hier beschriebenen Gegensätze sind keine natürlichen Gegebenheiten, sondern ein Erbe der sich verfestigenden Geschlechterdichotomie dieser Zeit. Erst seither ist die Vereinbarkeit stimmlicher Qualitäten mit den jeweiligen Geschlechterbildern die dominante Kategorie und prägt massgeblich sowohl die Komposition von Vokalmusik wie auch die Besetzungspraktiken in der Oper.
Entsprechend werden ab dem 19. Jahrhundert Sängerinnen mit tiefen Stimmen denunziert und zwar mit dem Rekurs auf eine vorgebliche ‚Ordnung der Natur‘. So schreibt die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung 1835: „Das Mann-Weib, Demoiselle Zöhrer, debütirte in der Zauberflöte und sang herzhaft ihren Tamino in der ursprünglichen Lage. Die Transposition aus der hohen Tenor- in die tiefe Sopran-Region bleibt immerdar widernatürlich.“ Bekannt aus dem 20. Jahrhundert ist der Fall aus den 1980er Jahren, in dem die St. George’s Chapel Windsor einer Sängerin verweigerte, dort in der Stimmlage Bass zu singen.

2. Behauptung: Weibliche Stimmen haben keine Autorität?

Dass die tiefe, männlich konnotierte, Sprechstimme Autorität symbolisiert, ist aus psychologischen Untersuchungen bekannt. Viele Frauen des öffentlichen Lebens, wie Politikerinnen oder Managerinnen, senken deshalb im Verlauf ihrer Karriere die Stimme ab. Blickt man auf die Musik und insbesondere das Musiktheater, so finden sich – nicht überraschend – gerade im 19. Jahrhundert primär die schöne, leidende und letztlich moribunde Frau. Vorgeblich stimmt diese Beobachtung,  Carolyn Abbate (Unsung Voices. Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century, 1991) und Mary Ann Smart (Siren Songs, 2000) zeigen aber, dass auch hier die weibliche Stimme vielfach die ,Stimme der Autorität‘ ist.
So ist Violetta Valéry in Giuseppe Verdis Repertoirestück La Traviata, zwar die typisch moribunde Protagonistin, die insbesondere in ihrem Leiden gern in extremis singt. Ihre Stimme senkt sich aber deutlich ab und sie zeigt eine ganz eigene Art von Würde, wenn sie sich im II. Akt mit  Giorgio Germont auseinandersetzt: „Donna son io, signore, ed in mia casa; Ch’io vi lasci assentite, Piu’ per voi che per me.“ Sie nötigt ihn hier zu einer respektvollen Haltung, die er ihr gegenüber nicht wieder verlieren wird. Auch hier ist, wenn auch in dem bescheidenen Rahmen, den das 19. Jahrhundert der weiblichen Stimme eröffnet, diese das „Medium der Selbstermächtigung“. Auch die in allen relevanten Kategorien, „race“, „class“ und „gender“ benachteiligte Aida in Verdis gleichnamiger Oper, ist, wie Smart zeigt, letztlich die – wenn nicht nominelle, so doch substantielle – Siegerin des Werks: ihre Stimme ist es, die die letzten und schönsten Vokalisen im ‚Entsagungsduett‘  zu singen hat. Und die letzte Stimme, die wir in dieser Oper hören, ist auch die einer Frau: Amneris. Verlassen wir einmal den eingeengten und einengenden Horizont des 19. Jahrhunderts, werden die Möglichkeiten noch wesentlich weiter, so findet sich bspw. im Jahr 1625 das Werk einer Komponistin, Francesca Caccini, in der es die Zauberinnen Melissa und Alcina sind, die sich um den ‚Helden‘, Ruggiero, streiten, der aber nicht mehr ist als ein passiver Spielball zwischen den Stimmen dieser machtvollen Frauen.

3. Behauptung: Die weibliche Stimme ist klar definiert?

Würde man auf den ersten Höreindruck behaupten, dass es leicht sei, ‚die weibliche Stimme‘ aus allen anderen herauszukennen, so hört sich dies beim zweiten und dritten Eindruck schon anders an: Die Stimme, unser primäres Instrument, zeigt sich insgesamt als ausgesprochen wandelbar – oder vielleicht ist sie sogar eine Leerstelle, die besetzt werden kann, wie es den ForscherInnen gerade gefällt? Es findet sich zumindest eine große Bandbreite zwischen der autoritativen weiblichen Stimme zu Beginn des 17. Jahrhunderts, der im 19. Jahrhundert angeblich unhörbaren Stimme des Soprans, dem gleichzeitig von Mary Ann Smart postulierten „Sirengesang“ und beispielsweise den Ideen des Lacanianers Michel Poizat, der vom „cri de l’ange“, aber auch der „voix du diable“ in der Oper spricht. Und im Musiktheater des 20. Jahrhunderts verwirren sich die oben auch schon verwickelten Stimm-Geschlechter-Konstellationen weiter. Gerade Olga Neuwirth hat, wie auch Stefan Drees zeigt, durch ihre Beschäftigung mit einer „androgynen Stimmlage“, insbesondere durch ihre Beschäftigung mit der Stimme Klaus Nomis zu dieser positiven Verwirrung beigetragen. So entzieht sich die Stimme als Medium der semantischen Vermittlung über die Jahrhunderte vielfach einer klaren, auch gerade geschlechtlichen, Einordnung – genau das macht die Beschäftigung mit ihr so spannend!