Todesraten (1997)

Elfriede Jelinek, Olga Neuwirth

Das Hörstück Todesraten ging aus Neuwirths Komposition Elfi und Andi hervor, für die Jelinek zwei Monologe verfasste. Zwei reale Fälle bilden die Grundlage der beiden Monologe: der Fall der „Schwarzen Witwe“ Elfriede Blauensteiner, die 1997 für den Mord an ihrem letzten Lebensgefährten und 2001 für den Mord an einer Nachbarin und einem früheren Lebensgefährten zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, und der Fall des Bodybuilders Andreas Münzer, der 1996 an den Folgen massiven Dopings, insbesondere durch Anabolika, starb. Jelineks Monologe wurden in weiterer Folge Teil ihres Theatertextes Ein Sportstück (1998). Mit dem Titel Todesraten wird auf Ingeborg Bachmanns Sprachspiel „Todesarten – Todesraten“ in ihrem Roman Malina Bezug genommen.

Die Stimme der Frau ist im Hörstück bestimmt und selbstbewusst, während der Mann verunsichert und stockend spricht:

Frau: Zum Schluß wußte er wahrscheinlich, wie eine Frau sich fühlt, wenn guter Geschmack, leider nie der eigene, im Spiel ist. Unter meinen Augen ist er eingegangen! Der ganze Körper war ja voll Scheiße, und das hat ja dann den Ausguß verstopft. Dann hab ich mit der Glocke die Scheiße in der Badewanne runtergedrückt. Ich bin die Wasserbraut von meinem Buben gewesen. Körperlos und doch einfach überwältigend. Zum Glück hat er nichts geschluckt. Weil dann hätte der Amtsarzt gesagt: Aha. Wasser in der Lunge. Der Alois ist nur so da rumgelegen. Keiner hat Anspruch auf ihn erhoben, oder doch, erst nachher, nachdem ich die Dreckarbeit erledigt hatte. Ich bin ja überhaupt ein lauterer, nein, ein lauter Mensch, dadurch wirke ich allein durch mein Aussehen, die Leute merken nicht, daß es im Grunde mein Sprechen ist, das wirkt und jeden bezaubert. Ich bin einfach bezaubernd. Ich fuchtle mit meiner Stimme herum.

(Unter der vorigen Passage Stimme der Frau im Hintergrund verfremdet: „Wasserbraut“ – „Er ist tot“)

aus: Elfriede Jelinek: Todesraten. In: Olga Neuwirth: Todesraten. Hörstück nach zwei Monologen von Elfriede Jelinek. col legno, 1999 (= audio music book), S. 10-25, S. 23.

Christine Dössel geht in ihrer in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Kritik auf Neuwirths Umgang mit der Textvorlage ein:

Die alte Frau und der Muskelprotz, Täterin und Opfer. Zwei, die in die Natur eingegriffen, sich am menschlichen Körper vergriffen haben. In Elfriede Jelineks neuem Hörspiel „Todesraten“ geben sie in der Form von inneren Monologen ihre Aussagen zu Protokoll: Er (gesprochen von Daniel Morgenroth) weinerlich, dümmlich, kindhaft. Sie (gesprochen von Marianne Hoppe) kühl, selbstverliebt. ganz Göttin ihrer selbst. Die Schriftstellerin montiert die Sätze ihrer Helden zu einem makaber-komischen Hörstück über die menschliche Hybris.

Olga Neuwirth (Regie und Komposition) hat eine Klangcollage entworfen, die den Text nicht nur untermalt, sondern auch ironisch kommentiert, ihn ins Absurde zerrt. Dem Thema Natur kommt sie musikalisch mit den Möglichkeiten der Technik bei, was dem Stück eine zweite Ebene verleiht – und der alten Dame spukige Hintergrundtöne.Wobei Marianne Hoppe das nicht einmal nötig hätte. So nornenhaft-wispernd, so eindringlich flüsternd, brummend und säuselnd wie sie ihre Sätze spricht, hat das eine fast schon hypnotische Faszination. Die österreichische Diva, inzwischen immerhin 86 Jahre alt, kann mit ihrer Stimme hexen – und verleiht diesem literarisch eher banalen Text einen poetischen Grusel.

aus: Christine Dössel: Die alte Dame kennt kein Pardon. In: Süddeutsche Zeitung, 27.6.1997.

Olga Neuwirth berichtet in einem Gespräch mit Pia Janke über die unterschiedlichen Fassungen des Hörstücks, die bei der Aufnahme mit Marianne Hoppe entstanden:

Pia Janke: An Ihren Hörspielen sind oft markante Sprecher beteiligt, zum Beispiel Marianne Hoppe. Braucht man ganz bestimmte Leute für diese Form?

Olga Neuwirth: Ich habe Marianne Hoppe in Berlin in einer ihrer späten Rollen in Heiner Müllers Quartett gesehen. Ich mochte sofort ihre Prägnanz in der Ausformung und Rhythmisierung von Müllers Sprache. Das Faszinierende war, dass sie nicht nur eine unglaubliche Bühnenpräsenz hatte, sondern auch ihr Geschick, mit vergessenen Textpassagen umzugehen. Bei Stellen, wo sie nicht mehr weiter wusste, hat sie laut Fragen eingebaut, als ob es zum Stück dazugehören würde. Ich habe sie danach angeschrieben, weil ich sie für das Hörspiel Todesraten als Sprecherin eines der beiden Monologe, die dann in das Sportstück eingeflossen sind, wollte. Es war ein Riesentext von fünfzehn Seiten, und Marianne Hoppe hat ihn äußerst präzise Laut für Laut für sich rhythmisiert, um die Textflächen zu strukturieren. Marianne Hoppe hat jeden einzelnen Satz mit Betonungszeichen durchgearbeitet. Jelineks Sprache hat ja einen bestimmten Rhythmus und einen Fluss. Die Aufnahme hat an die sieben Stunden gedauert, weil es verschiedene Lesarten auch über den Rhythmus gab, und den wollte sie darstellen und ausprobieren, weil sie für sich verschiedene Varianten gefunden hatte… Ich fand das unglaublich faszinierend. Durch einen anderen Rhythmus, durch eine andere Betonung kann ja der Text (wenn er so komponiert ist wie Jelineks) letzten Endes etwas anderes aussagen. Diese Dame hat soviel Zeit aufgewandt, um den Text für sich musikalisch zu erarbeiten, dass ich mich noch heute freue, wenn ich mir all die verschiedenen Versionen anhöre. Sie hat mit ihrem Tonfall dem Hörstück auf sprachlicher Ebene bereits eine Art von „Musik“ gegeben.

aus: Olga Neuwirth / Pia Janke: „Spiel mit Formen und Bedeutungsebenen. Olga Neuwirth (Wien) im Gespräch mit Pia Janke“. In: Pia Janke (Hg.): „Ich will kein Theater“ Wien: Praesens Verlag 2007, S. 410-422, S. 411-412.

Bernhard Günther schreibt in seinem Essay Todesraten: Taten d. Rose / drast. Töne / Stereo-Tand, der im booklet zur CD-Aufnahme des Hörstücks abgedruckt ist, über die Bedeutung der Stimmen/des Sprechens in diesem Werk:

Die formbestimmende Montage, die Überlagerung der beiden Texte im Hörstück  Todesraten, stammt von der Komponistin Olga Neuwirth. Immer stärker werden die  beiden Monologe ineinander verzahnt, die Musik schafft dichter werdende Überlagerungen, setzt Zäsuren im Text. Dabei läßt die Komponistin viel Raum für die artifiziellen Metaphernketten Elfriede Jelineks. Wie schon der Titel – eine verspielte Reverenz an die Todesarten von Ingeborg Bachmann – erwarten läßt, so geizt der Text nicht mit klanglichen Fortspinnungen und assoziativen Wortwucherungen. Doch obwohl dieser Sprache die Entstehung am Reißbrett der Schriftlichkeit eingeschrieben ist, setzt Olga Neuwirth gerade auf den Tonfall, auf die unmittelbare Wirkung des Ausgesprochenen: Ringend, stockend, stotternd, rhythmisiert die Stimme des Mannes („was hab’ ich da eben gesagt?“); die Stimme der Frau lakonisch, in unbeirrbarem Prosastrom, der vollen Überzeugung, „daß es im Grunde mein Sprechen ist, das wirkt“, stärker als Gift. Olga Neuwirth führt die Sprache vor in ihrer ganzen Befremdlichkeit, ohne die schützende Hülle einer „Literaturvertonung“, ohne die Inszenierung von Hörspielschauplätzen, ohne malerische Dramatik und ohne Gesang.Die solcherart „komponierten“ Sprechtexte werden unterbrochen oder überlagert durch instrumentale und elektronische Klänge. Das klingt nicht selten so drastisch wie die Sprache auch, beispielsweise gesellen sich hochdosierte Volksmusikzitate zur sprachlichen Überzeichnung des provinziellen Möchtegerns. Im wesentlichen führt die Musik den Text jedoch in schwierigeres Gelände: Vertraute Musikinstrumente, hin- und hergerissen zwischen musikantischen Banalitäten und virtuos gespielten Geräuschen, werden mit elektronischer Klangumformung in die Unwirklichkeit hinübergezogen; schrill verzerrte Samples und schwankende Klangflächen sind die Projektionsfläche der heiteren Klarinettenmelodie. Aufnahmen vom Keuchen in Bodybuilding-Studios verwandeln sich zum unmenschlichen Rasseln. Den Klischees von der Natürlichkeit des Weiblichen im selbstzufriedenen Weltbild der „professionellen Witwe“ werden „androgyne Klänge“ (Neuwirth) gegenübergestellt.

Je selbstsicherer die sprachliche Oberfläche, um so mehr zieht sich die Musik ins Ungewisse zurück. Hinter den Metapherngirlanden und Schwarz-Weiß-Zeichnungen des Textes, hinter allen Verstrickungen und Widersprüchen, die von der Sprache vorgeführt werden, eröffnet Olga Neuwirth die Zwischenwelten der Akustik.

aus: Bernhard Günther: Todesraten: Taten d. Rose / drast. Töne / Stereo-Tand. In: Olga Neuwirth: Todesraten. Hörstück nach zwei Monologen von Elfriede Jelinek. col legno, 1999 (= audio music book), S. 4-5, S. 4-5.