Jenny Schrödl: Erfahrungsräume

In ihrer Einleitung zum Kapitel Erfahrungsräume: Pathos – Emotion – Geschlecht gibt Jenny Schrödl, Theaterwissenschaftlerin an der FU Berlin, eine Einführung zum Thema Stimme und Geschlecht, in der sie sich mit der Anwendung von Judith Butlers konstruktivistischem Begriff “Gender” auf das Phänomen Stimme auseinandersetzt:

Ein anderer Aspekt von Erfahrungsräumen von Stimmen kann mit der Kategorie „Geschlecht“ umfasst werden. Die Stimme wird immer auch geschlechtlich wahrgenommen, wobei dieser Wahrnehmungs- und Zuschreibungsprozess ebenso wie die jeweilige stimmliche (sowie körperliche, modische etc.) Geschlechterperformance erst die Geschlechtlichkeit der sprechenden Person (mit-)konstituieren. Geschlecht – ebenso wie Sexualität und Begehren – ist im Sinne Judith Butlers als keine naturgegebene Größe zu verstehen, sondern als eine zeit- und kulturgebundene Konstruktion, die in Form ständiger Wiederholungen normativ bestimmter Praktiken, Handlungen, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Urteile produziert wird.1
So werden in der westlichen Kultur männliche und weibliche Sprechstimmen vor allem hinsichtlich der Tonhöhe bzw. der Grundfrequenz unterschieden (die männliche Stimme ist etwa eine Oktave tiefer als die weibliche), aber auch anhand von Artikulation, Intensität oder Intonation werden männliche bzw. weibliche Stimmen wahrgenommen, erkannt und differenziert, wobei dies auf angelernte Stimm- und Hörmuster zurückzuführen ist.2 Darüber hinaus erweist sich die Stimmwahrnehmung von Geschlechtsstereotypen bestimmt3 bzw. können in der geschlechtsspezifischen Wahrnehmung stimmlicher Verlautbarungen Männlichkeits- und Weiblichkeitsklischees tradiert werden. Beispielsweise gilt in unserer Kultur bis heute die „tiefe Stimme“ als dominant, seriös und vertrauenswürdig, während im Gegensatz dazu die „hohe Stimme“ als unsicher, weniger kompetent und weniger durchsetzungsfähig wahrgenommen wird4 Dies zeigt sich auch im Bereich des Fernsehens oder Rundfunks, wenn Nachrichtensendungen oder Dokumentationen verstärkt mit tieferen (Frauen-)Stimmen „besetzt“ werden, um ein Bild von Seriosität, Objektivität, Geistigkeit und Wissenschaftlichkeit zu vermitteln.
Mit der konstruktivistischen Perspektive auf Stimme, Wahrnehmung und Geschlecht ist nicht gemeint, dass es keine gegebenen Körper- und Stimmunterschiede zwischen Menschen gäbe, sondern vielmehr, dass die Wahrnehmung und Einteilung von verschiedenen Körperlichkeiten bzw. Stimmlichkeiten innerhalb eines normativen Systems von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität geschieht, das kulturell konstituiert, produziert und mithin potentiell verschiebbar oder veränderlich ist. Die Kritik wendet sich vor allem an Formen der Naturalisierung, womit Praktiken und Theorien innerhalb westlicher Gemeinschaften gemeint sind, die jenen Konstruktionsprozess von Sex, Geschlechtsidentität und Begehren über Körper, Gestik, Stimme, Kleidung und anderem gerade verschleiern und mithin eine hierarchisch entworfene Zweigeschlechtlichkeit sowie Heterosexualität als das Natürliche, Echte und Wahre ausgeben, während alle anderen, interferierenden Formen von Sex, Geschlecht und Begehren tendenziell abgewertet und ausgeschlossen werden.5

aus: Jenny Schrödl: Erfahrungsräume. In: Kolesch, Doris / Pinto, Vito / Schrödl, Jenny (Hg.): Stimm-Welten. Philosophische, medientheoretische und ästhetische Perspektiven. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 145-156, S. 152-153.

 


Anmerkungen

1 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990.
2 Vgl. Miriam Dreysse: „Die stimmliche Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlechteridentitäten auf der Bühne“, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Stimmen – Klänge – Töne. Synergien im szenischen Spiel, Tübingen: Gunter Narr Verlag 2002, S. 81-91, hier S. 81f.
3 Vgl. Gisela Klann-Delius: Sprache und Geschlecht, Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 40.
4 Vgl. David Graddol/Joan Swann: Gender Voices, Oxford, Cambridge: Blackwell 1989, S. 32.
5 Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter.